Isolation
25.07.2020
// Ich habe einen guten Freund, den ich schon viele Jahre lang kenne. Vor ungefähr fünf Jahren, mit Ende zwanzig, war er im Urlaub, kam zurück und fühlte sich zunehmend abgeschlagen und müde. Mittlerweile ist er seit vier Jahren komplett bettlägerig, kann sich nicht mehr bewegen, und nur noch wenige Stunden am Tag die Augen offen haben. Er ist Anfang dreißig. Gerne würde ich das Ganze in etwas literarisch Anspruchsvolleres verpacken, aber es gibt nichts zu schönen, nichts, was sich in Metaphern und Analogien kleiden ließe.
Ich habe den Ort, an dem ich viele Jahre meiner Jugend verbracht habe, hinter mir gelassen, und damit auch ihn und viele andere Personen, die mir eine Zeit lang nahestanden. Als es ihm noch gut ging hat er mich viele Jahre lang nicht in Hamburg besucht. Trotzdem fühle ich mich schlecht, ihn seit es mit seiner Gesundheit bergab geht nicht besucht zu haben. Ihn zu besuchen mache, sagt er, ohnehin nicht viel Sinn – er sei die meiste Zeit einfach nicht fit genug. Ich habe eine Zeit lang Podcasts für ihn aufgenommen, aber das ist nicht dasselbe, kann den menschlichen Kontakt nicht wirklich ersetzen.
Seine Krankheit heißt ME (Myalgische Enzephalomyelitis) bzw. CFS – Chronic Fatigue Syndrom. Die Symptome sind weitestgehend unerforscht, die betroffenen Personen werden von Politik und Forschung alleine gelassen, denn CFS ist unsichtbar, hochstigmatisiert und es gibt deswegen keine Forschungsgelder, wenn sich Wissenschaftler*innen damit beschäftigen. Lieber Krebs heilen, oder AIDS, oder Corona. Zu Beginn der Quarantäne-Zeit war ME/CFS-Awareness-Tag, es wurden Postkarten versandt in einem Versuch während der Corona-Krise, auf das Schicksal derjenigen hinzuweisen, die schon seit tausenden Tagen in Isolation sitzen (vgl. Can you hear ME now?). Es ist natürlich sinnlos, meine körperlichen Leiden gegen seine aufzuwiegen. Ich habe andere Dinge, die mich manchmal daran hindern, aufstehen zu können, Erschöpfung und Fieber, die allgemeine Maladie. Gedanken kreisen, turtles all the way down. Tschüß, Tag. Es macht keinen Sinn, das gegeneinander aufzuwiegen. Aber ich habe auch gute Tage. Erstaunlich viele gute Tage. Kann an vielen Tagen aufstehen, teilhaben. Die Pandemie betrifft mich auch mehr als andere, aber nicht so sehr wie ihn, denn das letzte Maß Freiheit, der Austausch mit Pfleger*innen und Familienmitgliedern ist nun zwangsweise auch eingeschränkt. Ich sehe dann Menschen, denen die Pandemie langweilig geworden ist. Ich sage das so, als wären das einige Wenige, aber es ist natürlich die Mehrheit. Sie wollen raus an das gute Wetter. Ihnen fehlt die Nähe zu solchen Schicksalen, sie können das alles deswegen nicht wirklich nachvollziehen. Manchmal erschrickt es mich, wie austauschbar wir sind, wie kurz die Aufmerksamkeitsspanne, was das Schicksal der anderen betrifft. Der Einzelnen und der Vielen.
Aber es geht nicht anders. Unser Mitgefühl muss begrenzt sein, sonst zerbersten wir, zerbrechlich wie wir sind, daran. Also sehe ich zu aus meinem Bett, während anderswo die Party steigt. Die nächste Party kommt bestimmt, und wenn die Schildkröten nicht sind, dann komme ich auch.
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